Anna Michels berichtet aus Mirabel (Québec / Kanada)
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Wie fasse ich ein ganzes Jahr in Worte? Ein Jahr, voller Erfahrungen und Erinnerungen, die für immer in meinem Herzen bleiben werden.

Als ich am 7. August 2008 um 5 Uhr morgens aufwachte, da glaubte ich noch nicht, dass ich in weniger als 24 Stunden mehr als 6000 Kilometer entfernt sein würde. Nein, meine Sorge war, was ich anziehen sollte. So zog ich kurzerhand einfach Jeans und T-Shirt an und begab mich an den Frühstückstisch, wo mich meine Familie verschlafen anlächelte.
Als wir dann 3 Stunden später in Köln am Flughafen standen flossen natürlich einige Tränen. Da mein Abschied aber ziemlich hektisch wurde, fehlte die Zeit, den Flughafen unter Wasser zu setzen. Und 12 Stunden später fand ich mich in Montréal wieder.

Mein größtes Problem: Ich hatte kein einziges Foto meiner Gastfamilie, also konnte ich nur hoffen und bangen, dass sie mich unter den ca. 50 anderen Schülern entdeckten. Und das taten sie schließlich. Als das Mädchen neben mir von einer Frau angesprochen wurde und fragte, ob sie Anna sei, da wurde mir klar, dass diese Frau meine zukünftige Gastmutter ist. Nach einer halben Stunde im Auto war dann irgendwann das Eis gebrochen und ich begann, mich wohlzufühlen. Die Verständigung klappte auch super, obwohl meine Gastschwester verschmitzt über meinen Akzent lächelte. Den ersten Monat hatte ich noch Ferien und verbrachte viel Zeit mit meiner Gastschwester, Catherine. Wir wurden langsam, aber sicher, Freundinnen und genossen die Zeit beim Sonnen im Garten oder beim Fahrradfahren. Mit meinem Gastvater hatte ich anfangs noch größere Schwierigkeiten, auch Verständnisprobleme, da er unglaublich nuschelte und ich kein Wort verstand. Meine Gastmutter nahm mir jedoch sofort sämtliche „Kulturschwierigkeiten“ und kümmerte sich mit Elan um mein leibliches Wohl, indem sie viel und gut kochte und mir sogar deutsches Brot besorgte.

Und am 3. September sollte schließlich mein erster Schultag sein. Der Tag, vor dem ich schreckliche Angst hatte. Ich hatte mir im Vorfeld schon 100 Szenarien ausgemalt, es ging vom Verpassen des Schulbusses, über Verlaufen in der Schule bis zum totalen Verlust der Französischkenntnisse bei Betreten der Schule. Nun, glücklicherweise trat nichts von all dem ein. Ich lernte ein paar meiner Lehrer kennen, unter anderem meinen Sportlehrer, der zu einem der zentralen Punkte meines Québec-Lebens werden sollte, vielleicht auch, weil ich die „plein air Option“ gewählt hatte, womit ich unendlich viele Sportstunden hatte. Ich muss sagen, dass ich mit dem Schulsystem nie größere Probleme hatte. Ich genoss die langen Mittagspausen, in denen ich mich liebend gerne mit Leuten verquatschte. Auch die Motivation, die vier langen Schulstunden zu überstehen fehlte mir nie, da ich ja mindestens eine Sportstunde pro Tag hatte. Okay, vielleicht war ich in Mathe schon unmotiviert. Haha.

Die ersten Monate verflogen wie im Flug. Plötzlich hatte ich die ersten Examen geschrieben, war in der Volleyballmannschaft und hatte Freunde gefunden. Ende Oktober machte ich dann auch das erste Mal Bekanntschaft mit dem kanadischen Gesundheitssystem. Ich war während des Cross Country Laufs heftigst mit dem Fuß umgeknickt und konnte nicht mehr auftreten. Ja, ich hatte es im Gefühl, dass das nicht ein normales Umknicken gewesen war und fuhr also nach dem Abendessen unter Tränen mit meiner Gastmutter zum Arzt. Der Arzt war jedoch nicht mehr da und so blieb mir nichts anderes übrig, als mit meinem gefühlten 1 Zentner Fuß ins Bett zu gehen. Nach einer schlaflosen Nacht bestand ich trotzdem darauf, in die Schule zu gehen. Als ich aber mittags fast vor Schmerzen umkam, rief ich meine Gastmutter an und wir fuhren zum Arzt, machten Röntgenaufnahmen und waren schließlich abends mit der Diagnose „angebrochener Fuß“ wieder zuhause. Für mich brach eine Welt zusammen und in diesen Momenten überkam mich eine erste Heimwehwelle, die ca. eine Woche andauerte. Ich saß im verregneten Kanada, mit einem gebrochenen Fuß und Schmerzen, während meine deutsche Familie grade zum Urlaub nach Griechenland aufgebrochen war. Das einzige, was mich in dieser Zeit aufheiterte, waren die Sportstunden, die ich, mit meinem Sportlehrer über das Leben philosophierend, auf der Bank verbrachte. Und genau diese Momente sind es, die für immer in meinem Herzen eingraviert bleiben. Die normalen, unspektakulären Momente. Diese Momente, die ich erst in Québec schätzen gelernt habe.

Die Zeit verflog weiterhin wie im Flug, mich verband mittlerweile eine enge Freundschaft mit einer italienischen Austauschschülerin, ma petite Re, die auch an meiner Schule war. Weihnachten stand vor der Tür, das erste Mal Skifahren im kanadischen Schnee, Silvester, etc. Nach Neujahr fuhren wir nach Québec zum Skifahren. Diese drei Tage waren einfach traumhaft, obwohl wir bis zu -35°C auf der Piste hatten. Ich genoss die Zeit, die mich auch mit meiner Gastschwester noch enger zusammenschweißte. Dann fing die Schule wieder an, ich hatte das erste halbe Jahr verbracht und wusste nicht, wo die Zeit geblieben war. Wir hatten einige Volleyballturniere an den Wochenenden und es kehrte der Alltag ein.
Nun war ich wirklich eine „Québécoise“. Das Französische sprudelte nur so raus, mein erster Traum in Französisch folgte und ich fühlte mich rundum wohl. Ja, Québec war zu einem richtigen Zuhause geworden. Als ich dann auch mal wieder auf dem Pferderücken saß, war mein Glück fast perfekt. Fast. Denn irgendwie begannen mir meine deutschen Freunde zu fehlen, die vielen Unternehmungen und auch das deutsche Nachtleben und natürlich nicht zu vergessen meine Familie und mein Inschallah (mein Pferd). Und im gleichen Moment konnte ich mir nicht mehr vorstellen, meine Québécois und meine Reija zu verlassen. Die Vorstellung, dass sich Reija’s und mein Weg in ein paar Monaten trennen sollte, war für mich unfassbar. Dieses Mädchen, mit den wirren, braunen Locken und dem lustigen Akzent war für mich eine beste Freundin geworden. All unsere gemeinsamen Unternehmungen, das viele Erzählen und wahrscheinlich auch unsere Situation hatten uns das schönste Geschenk der Welt gemacht: Freundschaft. Eine Freundschaft, die sich mit nichts anderem in der Welt aufwerten ließ, die für mich unentbehrlich geworden war.

Es folgte die „semaine de relâche“, oder auch „springbreak“ genannt. Während dieser Woche arbeitete ich als Freiwillige in einer Küche, die Essen für alte Leute zubereitet. Auch diese Erfahrung war interessant für mich, so zeigte sie mir doch, wie aktiv die alten Leute hier noch sind. Wir waren alle mit viel Humor bei der Sache und hatten viel Freude an der Arbeit.
Als die Schule wieder anfing, wurde dann der Abschlussball, welcher im Juli stattfinden sollte, zum Topthema. Ich weiß nicht, wie oft ich die Frage:“ Est-ce que t’as déjà achété ta robe, Anna?“ beantwortet hab. Nein, ich hatte mein Kleid noch nicht, aber meine Welt ging vorerst noch nicht unter. Nein, sie konnte nicht untergehen, denn die Freude, dass der Schnee endlich schmolz, ließ mein Herz springen. Und gleichzeitig fing eine „Saison“ an. Die Saison der „cabane à sucre“. Diese Saison versüßte mir im wahrsten Sinne des Wortes die Zeit. So aß ich doch zum ersten Mal Ahornsirup mit Schinken und Rührei. Es schmeckte einfach nur herrlich. Natürlich aß ich auch pro Besuch in diesem von mir überaus geschätzten Ausflugsziel mindestens 4 „tire sur la neige“. Das ein oder andere Mal hätte man mich sicherlich aus dem Restaurant rausrollen können, soviel hatte ich dort in mich reingestopft. Ganz genau erinnere ich mich noch an den goldenen 3 Besuch: Reija und ich hatten zuerst 3 Einmachgläser Rote Beete gegessen, danach 3 Teller Rührei mit Schinken und Ahornsirup und danach 3 Crêpes mit Ahornsirup und 3 tire sur la neige. Wir schafften es bis auf die Rückbank vom Auto, wo wir uns dann langlegten und schliefen. Trotz der Vorhersagen meiner Gastmutter blieben wir am Leben und starben nicht an einer Magenerweiterung. Haha.

Das Jahr neigte sich so langsam dem Ende zu. Auf einer Sportgala wurden wir als Volleyballmannschaft geehrt und bekamen Medaillen und fuhren wieder glücklich nach Hause. Ein weiterer Höhepunkt war der Kauf meines Ballkleids. Zusammen mit Reija, meiner Gastmutter und Catherine fuhren wir nach Montréal, wo ich ein bis dahin unbekanntes Paradies entdeckte: Eine ganze Straße nur mit Hochzeits- und Ballkleidern. Ich war zu 100% sicher, dass ich dort etwas finden würde. Doch meine Hoffnung starb mit jedem Gang in ein neues Geschäft. Wie sollte ICH hier etwas finden? Denn einer meiner Vorsätze war, dass ich keinesfalls wie eine Prinzessin aussehen wollte. Niemals ein Kleid mit aufgeplustertem Rock und zugeschnürtem Rücken. Niemals. Als wir am letzten Geschäft angekommen waren, war ich soweit, dass ich jeden Preis für ein einigermaßen schönes Ballkleid gezahlt hätte. Ja, ich hätte sogar für ein Kleid bezahlt, welches mir nicht so gut gefallen hätte. Doch Gott meinte es anscheinend gut mit mir. Es wartete im letzten Geschäft ein wunderschönes Kleid auf mich, was ganz meinen Vorstellungen entsprach. Das einzige Problem war die Größe. Doch für dieses Kleid war ich auch bereit, die Schneiderkosten zu bezahlen. Und plötzlich war er da. Der letzte Schultag. Der Tag, an dem ich das letzte Mal auf meinem Platz hinten an der Wand sitzen sollte. Es überkam mich ein Gefühl von totaler Leere, als ich mein Album bekam und meine Freunde dort kräftig ihre Glückwünsche hineinkritzelten.

Wo war die Zeit geblieben? War ich nicht gerade erst angekommen? Konnte es wirklich sein, dass ich schon 10 Monate hinter mir hatte, ohne es auch nur im Geringsten zu realisieren? Diesen Tag zähle ich zu einem der schwierigsten Tage meines Aufenthaltes. Es war vorbei. Einfach vorbei. Mich überkam eine unheimliche Traurigkeit und irgendwann kamen dann auch die Tränen. Obwohl ich mir doch vorgenommen hatte, nicht zu weinen, wenn es vorbei ist? Als ich dann irgendwann das Gefühl hatte, in einer riesigen Tränenpfütze zu liegen und völlig durchnässt zu sein, rappelte ich mich auf und wischte mir erstmal die letzten Reste meiner verlaufenen Wimperntusche von den Wangen. Als ich dann meine schwarzen Finger sah, musste ich auch schon wieder lachen. In den folgenden Tagen schmiss ich dann auch noch einen anderen Vorsatz über Bord, nämlich den, mich mit keinem männlichen, kanadischen Wesen zu verabreden. 5 Stunden später saß ich bei IHM im Auto. Ein unverschämt gutaussehender Québécois, Michael, der mir noch das ein oder andere Mal die Sprache verschlagen sollte.

Und dann war der große Tag auch schon da. Der Märchentag, von dem wir alle ein Jahr lang geträumt hatten. Der „bal des finissants“, oder auch „Prom“. Mein erster Weg nach einem ausgiebigen Frühstück führte zur Frisöse, von der ich nur 2 Stunden später mit einer prachtvollen Frisur nach Hause kommen sollte. Obwohl sie meinen Pony, meiner Meinung nach, etwas zu kurz geschnitten hatte, fand ich die Frisur doch „recht passabel“, nein, die Frisur war wunderschön. Ich fühlte mich mit einer geschätzten Tonne Haarspray und 54 Haarnadeln pudelwohl, doch trotzdem bewegte ich mich den Rest des Tages so wenig wie möglich, da ich Angst hatte, irgendetwas kaputtzumachen. Nachdem ich dann über die Webcam all meinen deutschen Freunden meine Frisur vorgeführt hatte, fing ich langsam an, mich zu schminken. Später kam Reija vorbei und wir zogen uns gemeinsam unsere Ballkleider an. Dann fuhren wir, ganz unspektakulär, im Geländewagen meiner Gastmutter zum Hotel, wo der Ball stattfinden sollte. Es wurde ein super Abend und alle hatten viel Spaß.

Am 5. Juli war es dann soweit, mein Abenteuer sollte zu Ende gehen. Zusammen mit meiner Gastfamilie fuhr ich zum Flughafen. Dort wurde ich dann von der freundlichen Lufthansa Mitarbeiterin darauf hingewiesen, dass meine beiden Koffer deutliches Übergewicht hätten. Für mich hieß es also: Auspacken. Ich beschloss, dass deutsche Bücher nicht so wichtig waren und ich die auch da lassen könnte. Dann fand ich noch einen Müllsack und wandelte diesen dann kurzermaßen in mein 4. Handgepäckstück um. In all der Hektik überraschte mich dann auch noch Michael, der extra zum Flughafen gekommen war. Der Abschied wurde lang und tränenreich. Ich konnte mich weder von Michael, noch Reija, noch Catherine, noch meiner Gastmutter losreißen. Dieses Mal blieb die Zeit, den Flughafen unter Wasser zu setzen. Und ich tat es. Diese vier Menschen, die in den letzten Monaten zu einem riesengroßen Teil meines Lebens geworden waren, konnte ich doch jetzt nicht verlassen? Mit jedem Einzigen verband mich etwas Einzigartiges. Doch es führte kein Weg vorbei, ich stieg schließlich ins Flugzeug und hob ab. Weg von einer Welt, die für immer einen Platz in meinem Herzen haben wird, weg von Menschen, die ich liebe, weg von Erfahrungen, die ich nicht missen möchte. Zurück nach Deutschland, zu meinen Freunden, zu meiner Familie, zu allem, wonach sich die andere Seite meines Herzens sehnte. Mein Wunsch für die Zukunft ist es, den Kontakt zu meiner Gastfamilie und meinen Freunden zu halten und weiterhin so glücklich zu bleiben, wie ich es im Moment bin. Und, nur noch 4 Wochen und ich bin schon wieder weg. Oder bzw. ich bin wieder zurück. Von einer Heimat in die andere Heimat.
 

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